Santeria und Spiritismus
Der Glaube an die magischen Kräfte der verstorbenen Ahnen ist von den Yoruba durch den Sklavenhandel in die Neue Welt gebracht worden. Ihr Glaube wird bestimmt durch die Möglichkeit der Materialisierung der Geister ihrer Vorfahren mittels eines Mediums, in Yoruba egungún genannt, durch das sie, besonders bei Beerdigungsritualen, mit den hinterbliebenen Familienmitgliedern sprechen können. Einmal im Jahr, im Juni, feiern die Yoruba zu Ehren ihrer Vorfahren ein großes Fest, das wahrscheinlich farbigste und unterhaltsamste aller Festivitäten ihrer Kultur.
In Kuba stellte sich alsbald das Problem, dass es nicht genügend egungúns gab, die diese Tradition weiterführen konnten, und nur wenige Nachfahren der ersten Yoruba lernten diese Praktiken. Erschwerend kam hinzu, dass die yorubische Tradition besagt, ein falsch ausgeführtes Ritual der egungúns führe zum sofortigen Tod. Natürlich waren nicht viele Menschen dazu bereit, dieses Risiko einzugehen. Deswegen galt der Kult Mitte des 19. Jahrhunderts als beinahe ausgestorben. In dieser Zeit jedoch verbreitete sich trotz Kritik seitens der Katholischen Kirche der Kardecismus in Kuba und anderen lateinamerikanischen Ländern, insbesondere in der Oberschicht der Gesellschaft. Die Sklaven und Bediensteten konnten ihre Herren und deren Frauen bei diesen Praktiken beobachten und bemerkten, dass diese Sitzungen in keiner Weise das Leben dieser Medien bedrohten. Aufgrund der bereits erwähnten Adaptionsfähigkeit der Yoruba konnten sie ihre alten egungún-Traditionen durch diese neue Bewegung ersetzen.
Gründer des Kardecismus war der Franzose Hippolyte Léon Denizard Rivail (1804-1869), der sich nach einem gallischen Druiden, der, wie Rivail glaubte, eine seiner früheren Inkarnationen war, Allan Kardec nannte. Seit 1850 beschäftigte sich Kardec mit dem Spiritismus, wobei er die ursprüngliche, 1848 in Amerika entstandene Form, d. h. die Beschwörung von Geistern, die sich durch ein Medium im Trancezustand mitteilen, mit dem Christentum verband. Er glaubte, dass Kommunikation mit den Geistern nur möglich sei, weil der Mensch eine Reihe von Reinkarnationen durchlaufe: "To be born, to live, to die, to be born again and always move forward. That is the law."
Er vertrat weiterhin die Theorie, jeder Mensch bekäme von Gott einen oder mehrere Geister als Schutzengel zugewiesen, mit denen man kommunizieren sollte, um sich auf diese Weise Hilfe zu holen. Deswegen entwickelte er Gebete und Übungen, mit dem Ziel, die Kontaktaufnahme mit diesen Schutzengeln zu erleichtern. Seine Bücher wurden in mehrere Sprachen übersetzt, u. a. in Spanisch und Portugiesisch, und besonders in den Ländern Argentinien, Brasilien, Kuba und Puerto Rico waren seine Werke erfolgreich. In Kuba sollen bis zu 90 % der Bevölkerung an den Kardecismus glauben.
Innerhalb der Santería ist Kardecismus zu einem unabdinglichen Bestandteil geworden, da er den Verlust einer alten Tradition ersetzt hat. Jeder Santero ist gleichzeitig ein Spiritist, umgekehrt muss jedoch ein Spiritist keinesfalls ein Santero sein. Das heißt, dass Spiritismus, als unabhängige Bewegung, durchaus in seiner reinen Form praktiziert wird, die Santería ist dagegen von Kardecs Ideen beeinflusst worden, wobei allerdings die philosophischen Aspekte fast vollständig außer Acht gelassen werden, wichtig ist im eigentlichen die Besessenheit bzw. die Trancezustände der Medien. In der Praxis bedeutet dies beispielsweise, dass bei Todesfällen neun Tage nach der Beerdigungszeremonie eine katholische Messe zu Ehren des Toten stattfindet, an deren Anschluss zusätzlich eine kardecistische spirituelle Messe zelebriert wird, in der Kardecs Gebete gelesen werden und Kontakt mit dem Toten aufgenommen wird. In der Religion der Santería steht die Verehrung der verstorbenen Vorfahren und die Kontaktaufnahme mit diesen an erster Stelle, den Orishas räumt man einen Platz erst an zweiter Stelle ein. Verehrt werden nicht nur die Geister der eigenen Vorfahren, sondern auch die Verstorbenen der Glaubensgemeinschaften, die für die Santeros durchaus die Bedeutung einer geistlichen Familie haben. Die Verbindung zu dieser Familie" ist sehr stark ausgeprägt und jedes Mitglied ist verpflichtet, sich gegenüber seinen geistlichen Schwestern und Brüdern entsprechend zu verhalten. Jeder Gläubige hat zudem in seinem eigenen Haus eine Art Altar, bóveda, d. h. einen Tisch mit weißer Tischdecke, auf dem er Wasserkelche stehen hat. Jeder dieser Kelche ist einem oder mehreren Vorfahren gewidmet. Im Zentrum des Tisches steht ein etwas größerer Kelch, der dem hauptsächlich verehrten Geist geweiht ist. Hauptgeister sind dabei häufig afrikanischer Abstammung. Einer der bekanntesten ist El Negrito José, der vielen Santeros Schutz bietet, wobei jeder Gläubige seine eigene Darstellung von ihm hat, z. B. kann er mit einem alten afrikanischen Sklaven identifiziert werden. Dementsprechend gibt es ihn in verschiedenen Ausfertigungen in Form von Statuen. Eine Variante wäre El Negrito José in rotweißer Kleidung als Zeichen dafür, dass er mit dem Orisha Changó, dessen emblematische Farben Rot und Weiß sind, eng zusammenarbeitet. Der Hauptgeist trägt ein kleines Säckchen über der Schulter, in dem sich die Kräuter befinden, die er für die Ausübung seiner magischen Kräfte benötigt.
Auf der bóveda befinden sich weiterhin Zigarren, Rum, eine Flasche aromatisierter Alkohol, Bonbons und manchmal ein zubereitetes Gericht für die Geister. Andere Gaben wie eine rote Rose oder ein Kruzifix sind möglich. Während einer Séance sitzen die Teilnehmer an einem Tisch und halten sich an den Händen. Eine bóveda wird aufgestellt, um die sich die Medien und der Santero platzieren. Vor Beginn muss sich jeder Teilnehmer mit einer Flüssigkeit reinigen, die aus Wasser, dem Eau de Toilette Florida Water und Blüten besteht. Dann zünden sie sich auf Wunsch eine Zigarre an, deren Rauch die Geister - vor allem die afrikanischen - anziehen soll. Dann beginnt der Santero, Kardecs Gebete zu lesen. Nach einer Weile findet eine Verwandlung der Medien statt. Manche gehen unter dem Einfluss der Geister mit weit geöffneten Augen in einem Trancezustand im Raum umher und sprechen mit den Anwesenden. Ist der Geist afrikanischen Ursprungs, spricht er meist ein schwer verständliches gebrochenes Spanisch mit afrikanischen Elementen, sein Verhalten ist meist das eines afrikanischen Sklaven gegenüber seinem Eigentümer.
Während dieser Zeremonie wird ebenfalls das Obi-Orakel befragt, um sicherzustellen, dass die Geister und Orishas zufrieden sind. Dabei kann es vorkommen, dass sie ein Opfer verlangen. Manchmal ist die Opferung eines Hahnes vonnöten, z. B. wenn die Geister und Orishas aussagen, dass ein Menschenleben in Gefahr ist. Auch in der Santería gedenken die Santeros ihrer Vorfahren an einem bestimmten Tag. Dieser fällt jedoch nicht mit dem Tag des Festes der Yoruba zusammen, sondern wurde durch die damalige Situation der Sklaven auf den Tag des katholischen Feiertages Allerseelen am 2. November gelegt.